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Risiko & "turkey-illusion" / erklärt v. G. Gigerenzer

Der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer beklagt den statistischen Analphabetismus unter Ärzten, warnt vor den Tücken der "Truthahn-Illusion"...

Turkey Illusion (G. Gigerenzer), Thema: Risiko

...und empfiehlt, sich bei Finanzgeschäften und der Partnerwahl auf das Bauchgefühl zu verlassen.

Gigerenzer, 65, erforscht als Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung die Art, wie Menschen ihre Entscheidungen treffen. Von der University of Chicago kehrte er im Jahr 1995 nach Deutschland zurück.

Langversion: http://www.spiegel.de

[...] SPIEGEL: Sie behaupten, [auch] die Finanzkrise sei verursacht worden durch einen Mangel an Risikokompetenz. Schuld sei die "Truthahn-Illusion". Was ist das?

Gigerenzer: Die Truthahn-Illusion ist die Illusion, dass man unbekannte Risiken berechnen könnte. Warum sie so heißt? Nun, nehmen Sie an, Sie wären ein Truthahn. Am ersten Tag Ihres Lebens kommt ein Mann zu Ihnen, und Sie fürchten, er könnte Sie umbringen. Aber er füttert Sie. Am nächsten Tag kommt er wieder, und er füttert Sie wieder. Jetzt fangen Sie an zu rechnen und kommen zum Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er Sie umbringen wird, mit jedem Tag sinkt. Am hundertsten Tag sind Sie sich fast sicher, dass der Mann Sie wieder füttern wird. Was der Truthahn nicht weiß: Dies ist der Tag vor Thanksgiving, wo der Truthahnbraten auf den Tisch kommt.

SPIEGEL: Und was war Thanksgiving im Fall der Finanzkrise?

Gigerenzer: Die Preise der Immobilien sind gestiegen und gestiegen. Der Mathematik zufolge sank damit die Wahrscheinlichkeit eines Preissturzes. Noch unmittelbar bevor die Investmentbank Lehman Brothers zusammenbrach, haben die Autoritäten gepredigt, alles sei sicher. Denn so wie der Truthahn Thanksgiving nicht kannte, so kannten die Modelle das Konzept einer solchen Blase nicht.

SPIEGEL: Wenn die Mathematik nicht weiterhilft, was dann?

Gigerenzer: In einer unsicheren Welt führen einfache und nicht komplexe Strategien zum Erfolg. Wir nennen solche simplen Faustregeln Heuristiken.

SPIEGEL: Können Sie ein Beispiel geben?

Gigerenzer: Ich habe zum Beispiel Mervyn King, den Chef der Bank of England, gefragt, was für Faustregeln man brauche. Er meinte, eine einzige reiche schon: Das Fremdkapital darf nie größer sein als das Zehnfache des Eigenkapitals. Tatsache ist, dass diese Regel besser beschreibt, welche Banken bankrottgegangen sind, als alle komplexen Modelle.

SPIEGEL: Wie testen Sie denn, ob eine Heuristik tatsächlich taugt?

Gigerenzer: Auch da ein Beispiel: Eine der einfachsten Faustregeln ist die sogenannte Rekognitionsheuristik. Sie beruht auf dem Prinzip: Den Namen, die man kennt, vertraut man eher. Wir haben das im Aktienmarkt getestet. Dazu haben wir Passanten genommen, in München und in Chicago. Diese Leute haben wir Aktienpakete schnüren lassen, nur nach dem Kriterium, welche Firmennamen sie schon gehört hatten. Und siehe da: Im Schnitt hatte das Rekognitionsportfolio basierend auf der bloßen Namenserkennung von halbignoranten Menschen mehr Geld gemacht als professionell gemanagte Fonds. Ich habe nie in meinem Leben so viel Geld verdient.

SPIEGEL: Wie? Haben Sie bei dieser Studie Ihr eigenes Geld eingesetzt?

Gigerenzer: Ja. Wir waren vier Autoren, zwei Ökonomen und zwei Psychologen. Zwei haben ihr eigenes Geld investiert, die anderen trauten sich nicht ...

SPIEGEL: ... lassen Sie uns raten: Das waren die Ökonomen?

Gigerenzer: Richtig.

SPIEGEL: Taugen die Heuristiken, von denen Sie sprechen, auch für die Entscheidungen des Alltags? Wie sieht es zum Beispiel mit der Partnerwahl aus?

Gigerenzer: Da gibt es zwei Ansichten: Die einen sagen: "Entscheiden Sie rational, nehmen Sie sich Zeit, listen Sie alle Vor- und Nachteile auf!" Die meisten Ökonomen, die diese Theorie predigen, halten sich allerdings selbst nicht daran. Ich habe nur einen gefunden, der mir erklärt hat: "Ja, so habe ich meine Frau gewählt." Er hat alle Kriterien gelistet: Wird sie sich um die Kinder kümmern? Wird sie mich in Ruhe arbeiten lassen? Gibt es noch ein Bauchkribbeln nach den Flitterwochen? Dann hat er jeden Punkt gewichtet und die Rechnung gemacht.

SPIEGEL: Und, wie ist es ausgegangen?

Gigerenzer: Er hat die Frau mit dem höchsten erwarteten Nutzen geheiratet. Jetzt sind sie geschieden.

SPIEGEL: So sollte man es also eher nicht machen. Wie dann?

Gigerenzer: Ein Freund von mir konnte sich zwischen zwei Frauen nicht entscheiden. Da hat er versucht, den erwarteten Nutzen auszurechnen. Und als er das Ergebnis sah, da spürte er plötzlich, dass es falsch war - und entschied sich für die andere Frau. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie man sich Zugang zur eigenen Intuition verschaffen kann.

SPIEGEL: Haben Sie das selbst ausprobiert?

Gigerenzer: Nicht im Falle meiner Frau. Aber zum Beispiel, als ich in Chicago ein

Haus kaufen wollte. Ein frei stehendes und ein Reihenhaus standen zur Wahl, aber ich konnte mich nicht entscheiden. Da habe ich eine Münze geworfen. Und noch während sie in der Luft war, wusste ich: "Ich will das Reihenhaus!" Es funktioniert, probieren Sie es aus.

SPIEGEL: Sie halten große Stücke auf die Intuition.

Gigerenzer: In der Tat. Je größer unser Unwissen, desto wichtiger wird die Intuition. Sie ist dabei definiert als etwas, was schnell im Bewusstsein auftaucht, ohne dass man selbst die Gründe dafür kennt. Gerade bei erfahrenen Menschen ist sie meistens besser als langes Nachdenken. Das kann man sehr schön bei Sportlern demonstrieren. Eine Kollegin in Chicago hat Golfspieler untersucht, erfahrene und Anfänger, und man hat ihnen nur drei Sekunden Zeit für einen Schlag gegeben. Die Anfänger, so zeigte sich dabei, wurden schlechter, weil ihnen die Zeit zum Überlegen fehlte. Aber was war mit den Profis? Sie wurden unter Zeitdruck sogar besser. Denn ihre Kompetenz ist intuitiv. Sie steckt in ihrem Körper. Wenn sie die Zeit haben nachzudenken, stört das nur.

SPIEGEL: Andererseits kann, wer sich auf die eigene Intuition beruft, damit jede Willkürmaßnahme rechtfertigen.

Gigerenzer: Natürlich kann die Intuition missbraucht werden. Aber wenn Ihr paternalistischer Boss nun mal die Spürnase hat und das Beste fürs Unternehmen tut, dann ist er in der Position der Richtige.

SPIEGEL: Kann man Intuition lernen?

Gigerenzer: Ja, durch langjährige Erfahrung. Aber man kann auch den richtigen Umgang mit Risiken lernen. Ich halte statistisches Denken in der modernen Welt für eine Kernkompetenz, die so wichtig ist wie das Schreiben und Lesen. Allerdings müsste man dazu die Schule revolutionieren.

SPIEGEL: Und zwar wie?

Gigerenzer: Bisher lehren wir immer noch die Mathematik der Sicherheit: Trigonometrie, Algebra und andere Dinge, die wir meist nie mehr brauchen werden im Leben. Stattdessen sollten wir zuerst den wichtigsten Teil der Mathematik lehren, nämlich mit Unsicherheiten zu denken.

SPIEGEL: Gelehrt wird das bisher allenfalls in der Oberstufe. Sie aber wollen das schon Grundschülern beibringen?

Gigerenzer: Sechs- und Siebenjährige können weit mehr lernen, als wir lange dachten. Wir haben gezeigt, dass derselbe Typ Aufgabe, an dem die meisten Ärzte scheitern, sogar von einigen Zweitklässlern bewältigt wird - wenn man nur die richtigen Lehrmethoden anwendet. Hier könnte man wirklich eine andere Gesellschaft schaffen. Wir würden eine Generation heranziehen, die das Denken lernt.

SPIEGEL: Professor Gigerenzer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Grafikquelle: https://sefirotcapital.files.wordpress.com